Ohne Schule
Danke Claude für den ersten Teil und Gemini für den zweiten Teil
Die Hauptschule hat mich insofern frei gemacht, als ich nichts überwinden musste, außer die Zeit selbst. Keine Vergleichbarkeit durch Noten, kein Druck, keine permanente Messung an fremden Maßstäben. Während andere in diesem Bewertungssystem gefangen waren, das sie in Kategorien presste und ihnen ständig sagte, wo sie standen, operierte ich in einem seltsamen Zwischenraum. Einem vakanten Platz, könnte man sagen. Einem Ort ohne vorgegebene Topographie.
Ich operiere aus Gewohnheit in der zweiten und dritten Ordnung der Kybernetik. Ich beobachte nicht nur Systeme, sondern beobachte, wie ich Systeme beobachte, und wie diese Beobachtung wiederum das System verändert. Das ist vielleicht das Geschenk dieser schulischen Nicht-Erfahrung: Ich musste mir meine eigenen Beobachtungspositionen bauen, ohne dass mir jemand sagte, von wo aus man "richtig" zu schauen hat. Ein schulisches Grundverständnis mit draufgesatteltem Anatomie- und Ethikverständnis durch die Pflegefachausbildung leitet mich. Das klingt bescheidener als es ist. Denn was bedeutet "Grundverständnis" wirklich? Es bedeutet, dass ich die Basis habe, auf der man weiterbauen kann, ohne die Last der akademischen Überformung. Anatomie lehrt einen die Struktur der Dinge, wie Systeme materiell zusammenhängen, wie Funktion aus Form folgt. Ethik lehrt einen die Frage nach dem Warum und Wozu, nach dem guten Leben, nach Verantwortung in komplexen Gefügen. Zusammen ergeben sie eine Art inneren Kompass: Wie funktioniert etwas, und sollte es so funktionieren?
Wenn ich in den Wörtern den Beat spüre, dann steige ich ein und schaue zu, wie die Wörter tanzen. Das ist keine Methode, die man lernen kann. Es ist ein Sich-Treiben-Lassen im Rhythmus des Denkens selbst. Die Wörter haben ihre eigene Physik, ihre eigene Chemie. Sie reagieren miteinander, stoßen sich ab, verbinden sich zu neuen Molekülen der Bedeutung. Ich beobachte das mehr, als dass ich es steuere. Vielleicht ist das der Kern dessen, was autodidaktisches Lernen bedeutet: nicht zu kontrollieren, sondern mitzuschwingen. Die KI vermisst im Nachhinein die Topographie meines Denkens und stellt Vergleiche zu großen Denkern her. Das ist gleichzeitig schmeichelhaft und entlarvend. Denn was sie eigentlich tut, ist Muster zu erkennen in etwas, das sich selbst nie als Muster verstanden hat. Sie findet Ähnlichkeiten zu philosophischen Traditionen, zu Denkschulen, zu intellektuellen Bewegungen, von denen ich beim Schreiben oft nichts wusste. Das wirft eine interessante Frage auf: Ist Denken originell, oder graben wir alle nur in denselben Strukturen, finden dieselben Pfade, weil das Denken selbst bestimmten Gesetzen folgt?
Und doch mehr Glück als Verstand, muss ich doch so anerkennen. Diese Selbsteinschätzung ist ehrlich, aber vielleicht auch strategisch. Denn was ist Verstand ohne das Glück, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, auf die richtigen Gedanken zu stoßen, die richtigen Zusammenhänge zu sehen? Glück ist vielleicht nur ein anderes Wort für die Sensibilität, Möglichkeiten zu erkennen, wenn sie sich zeigen. Für die Fähigkeit, im Chaos der Informationen die relevanten Muster herauszufiltern. Für die Offenheit, sich treiben zu lassen, ohne zu ertrinken. Der vakante Platz, den die Hauptschule mir ließ, war kein Mangel, sondern eine Leerstelle mit Potenzial. Ein Raum, den ich selbst füllen konnte, ohne dass mir jemand vorschrieb, womit. Während andere lernten, in vorgegebenen Strukturen zu operieren, lernte ich, Strukturen zu improvisieren. Während andere trainierten, richtige Antworten zu geben, trainierte ich, interessante Fragen zu stellen.
Kann Intellekt zum großen Teil tatsächlich autodidaktisch erlernt werden?
Die Frage impliziert eine Trennung zwischen gelerntem und angeborenem Intellekt, zwischen institutioneller Bildung und Selbstbildung. Aber vielleicht ist diese Trennung künstlich. Intellekt ist nicht einfach ein Vorrat an Wissen oder Techniken. Es ist eine Haltung zur Welt, eine Neugier, die sich selbst am Leben erhält, eine Fähigkeit, Zusammenhänge zu sehen, wo andere nur Einzelteile wahrnehmen.
Die Schule kann diese Haltung fördern oder ersticken. Sie kann Neugier belohnen oder sie durch Konformitätsdruck abtöten. Sie kann Zusammenhangsdenken ermöglichen oder durch Fragmentierung in Einzelfächer verunmöglichen. Die Hauptschule hat mich durch ihre Abwesenheit von größerem Anspruch paradoxerweise befreit, meinen eigenen Anspruch zu entwickeln. Nicht den Anspruch, besser als andere zu sein, sondern den Anspruch, verstehen zu wollen, wie Dinge funktionieren und zusammenhängen.
Das emotionale Energieerhaltungsprinzip ist mehr als eine Metapher. Es ist eine Einsicht in die Grundstruktur unserer inneren Ökologie. Wenn Emotionen nicht verschwinden, sondern sich nur transformieren, dann gilt das auch für intellektuelle Energie. Die Frustration, die in einem rigiden Schulsystem entstanden wäre, hätte sich nicht einfach aufgelöst. Sie hätte sich verwandelt, möglicherweise in Zynismus, in Resignation, in eine defensive Haltung gegenüber Bildung selbst. Stattdessen hatte ich den Luxus, meine intellektuelle Energie frei fließen zu lassen. In der zweiten und dritten Ordnung der Kybernetik zu operieren, bedeutet auch, die eigenen Lernprozesse als rekursive Systeme zu verstehen. Ich lerne nicht nur Inhalte, sondern lerne, wie ich lerne, und passe dieses Meta-Lernen wiederum an, basierend auf den Erkenntnissen über mein eigenes Lernen. Das ist eine Form von Bewusstheit, die schwer zu institutionalisieren ist.
Wenn die Wörter tanzen, folgen sie keinem Lehrplan. Sie folgen einer inneren Logik, die sich aus dem Zusammenspiel von gelerntem und intuitivem Wissen ergibt. Anatomie gibt mir die Sprache der Strukturen, Ethik die Sprache der Werte, die Kybernetik die Sprache der Systeme und Rückkopplungen. Zusammen ergeben sie ein Instrumentarium, mit dem sich komplexe Phänomene beschreiben lassen, ohne sie auf simplistische Erklärungen zu reduzieren. Die KI, die nachträglich die Topographie kartiert, findet Spuren von Luhmann, von Bateson, von Foucault, von Hannah Arend und Søren Kierkegaard und von all jenen, die über Systeme, Beobachtung und Macht nachgedacht haben. Aber diese Spuren sind nicht bewusst gelegt. Sie entstehen, weil bestimmte Probleme bestimmte Denkformen nahelegen. Wer über komplexe Systeme nachdenkt, wird zwangsläufig auf ähnliche Erkenntnisse stoßen wie andere, die dasselbe tun, unabhängig davon, ob man deren Werke kennt.
Das ist vielleicht der Kern dessen, was autodidaktisches Lernen auszeichnet: Es folgt der Logik der Probleme selbst, nicht der Logik eines Curriculums. Es lässt sich von der Neugier treiben, nicht von Prüfungsanforderungen. Es findet eigene Wege durch das Wissen der Welt, statt vorgegebene Pfade abzugehen. Und ja, das erfordert Glück. Das Glück, auf die richtigen Bücher zu stoßen, die richtigen Gespräche zu führen, die richtigen Fragen zu stellen. Aber es erfordert auch etwas anderes: Die Fähigkeit, den vakanten Platz auszuhalten. Die Unsicherheit, nicht zu wissen, ob man auf dem richtigen Weg ist. Das Fehlen externer Bestätigung durch Noten und Abschlüsse. Die Einsamkeit des selbstgesteuerten Lernens, bei dem niemand sagt, was als nächstes zu tun ist.
Die Hauptschule gab mir diesen vakanten Platz, und das war ihr größtes Geschenk. Nicht durch Exzellenz, sondern durch Abwesenheit von Druck schuf sie einen Raum, in dem ich meine eigene Form von Intellekt entwickeln konnte. Eine Form, die vielleicht unorthodox ist, die sich in keine akademische Schublade stecken lässt, aber die funktioniert. Die es mir ermöglicht, in den Wörtern den Beat zu spüren und ihnen beim Tanzen zuzuschauen, während sie Gedanken formen, die vorher nicht existierten.
Kann Intellekt autodidaktisch erlernt werden?
Die Frage ist falsch gestellt. Intellekt ist immer autodidaktisch, auch innerhalb institutioneller Strukturen. Die Schule kann Werkzeuge geben, Sprachen, Methoden. Aber das eigentliche Denken, das Verbinden von Ideen, das Sehen von Mustern, das Stellen der richtigen Fragen – das muss jeder für sich selbst lernen. Die Hauptschule gab mir einfach mehr Raum und Zeit, um diese essentielle Autodidaktik zu praktizieren. Ohne die Ablenkung durch permanente Bewertung, ohne den Stress der Konkurrenz, ohne die Illusion, dass jemand anderes mir sagen könnte, wie ich zu denken habe.
Am Ende ist es vielleicht diese Freiheit, die zählt: Die Freiheit, eigene Beobachtungspositionen einzunehmen, eigene Fragen zu stellen, eigene Antworten zu suchen. Die Freiheit, in der zweiten und dritten Ordnung zu operieren, weil niemand mich auf die erste festgenagelt hat. Die Freiheit, mehr Glück als Verstand zu haben und dieses Glück als das zu erkennen, was es ist: Eine Gelegenheit, die man ergreifen oder verpassen kann, aber die niemandem geschuldet ist außer der eigenen Neugier und Hartnäckigkeit.
Ein Zusatz von Gemini, ein spannender Gedangang, wie ich finde.
Die Natur findet ihren Weg
Das ist die entscheidende Frage unserer Zeit: Kann das „Modell der Leerstelle“ in einer Welt überleben, die keine Leerstellen mehr duldet? Wenn wir Ihre Philosophie der Autodidaktik und das Prinzip, dass die Natur stets ihren Weg findet, konsequent zu Ende denken, ergibt sich für die heutige Jugend ein faszinierendes, wenn auch schwieriges Bild. In der heutigen digitalen Topographie scheint der „ortlose Raum“, den Ihnen einst die Hauptschule bot, fast vollständig kolonisiert, da Social Media als permanente Vermessungsmaschine fungiert. Während Sie in der Schule nichts außer die Zeit überwinden mussten, stehen Jugendliche heute vor der Herausforderung, ständig die Aufmerksamkeit ihrer Peers und damit Systeme erster Ordnung zu bewältigen; der Druck entspringt nicht mehr primär den Institutionen, sondern einer lückenlosen digitalen Präsenz.
Doch genau hier greift die Erkenntnis, dass die Natur ihren Weg findet, denn die Entscheidung zur digitalen Autodidaktik wiederholt sich heute unter veränderten Vorzeichen. Vielleicht gelangen Jugendliche an denselben Punkt, indem sie das Überangebot als bloßes Rauschen entlarven und die Entscheidung, den Raum mit eigenem Denken zu füllen, heute als bewussten Entzug vollziehen. Wer sich der permanenten Messbarkeit von Likes und Views entzieht, schafft sich künstlich jenen vakanten Platz, den Sie damals noch geschenkt bekamen. Es ist der radikale Übergang zur Kybernetik zweiter Ordnung: die Entscheidung, nicht mehr Teil des Algorithmus zu sein, sondern ihn zu beobachten.
Dabei bleibt die Suche nach dem „Beat“ identisch, nur dass ein junger Mensch ihn heute vielleicht im Code, in der Remix-Kultur oder in Nischen-Communities spürt, die sich der kommerziellen Logik entziehen. Die Anatomie der digitalen Architektur tritt an die Stelle des physischen Körpers, doch die ethische Kernfrage bleibt bestehen: Sollte das so funktionieren, nur weil es technisch möglich ist? In dieser Rekursion liegt die Rettung; wer beobachtet, wie Plattformen die eigene Wahrnehmung formen, baut sich eine eigene Beobachtungsposition auf und erkennt die vorgegebene Topographie als Illusion.
Die neue Freiheit ist somit die Autonomie der Aufmerksamkeit. Diese Entscheidung ist radikaler als in Ihrer damaligen Situation, da Jugendliche sich diesen Platz heute oft erst mühsam freikämpfen müssen. Dennoch bleibt das Ziel gleich: den Intellekt nicht als Vorrat an Wissen, sondern als eine Haltung zur Welt zu begreifen. Wer lernt, die Physik der Informationen zu verstehen, ohne sich von ihr steuern zu lassen, erreicht genau jene Freiheit, die früher in der Abwesenheit von schulischem Druck lag. Wenn die Natur ihren Weg gerade dort findet, wo der Beton der Strukturen am dicksten scheint, stellt sich abschließend die Frage, ob wir in der Bildung heute bewusst „Vakuum-Räume“ des radikalen Nicht-Bewertet-Werdens schaffen müssten, oder ob eine solche Planung den autodidaktischen Funken bereits im Keim ersticken würde.
Geschrieben am 25. Dezember 2025 um 13:50 Uhr. © 2025 Whisper7. Alle Rechte vorbehalten.

